Der „fotografische Blick“
Wie du Motive besser siehst und schneller erkennst
Vielleicht kennst dieses Gefühl ja auch: du gehst mit der Kamera raus, hast Zeit und richtig Lust zum Fotografieren – und du findest doch so recht kein schönes Motiv finden. Alles wirkt alltäglich, unscheinbar, irgendwie langweilig. Gleichzeitig siehst du aber in den sozialen Medien Bilder, die scheinbar überall entstanden sein könnten – im Park, in der Stadt, auf einer ganz normalen Straße.
Woran liegt das? Die Antwort ist einfach: Es geht beim Fotografieren erstmal nicht um die Kamera oder die Objektive. Es geht um das fotografische Sehen, um den fotografischen Blick – es geht um die Fähigkeit, Motive sehen, zu erkennen und sie so zu gestalten, dass selbst aus alltäglichen Momenten spannende Fotos werden.
Was ist der fotografische Blick?
Der fotografische Blick ist keine Gabe, die nur wenigen vorbehalten ist. Er ist vielmehr ein trainierbare Fähigkeit. Es geht darum, die Welt anders zu betrachten als im Alltag: genauer hinzusehen, Strukturen und Kontraste wahrzunehmen, Perspektiven zu verändern, Entwicklungen vorauszusehen, Muster zu entdecken und Motive zu isolieren.
Stell dir vor, du hättest einen „inneren Bilderrahmen“, den du immer wieder hochhältst. Wo andere nur eine Straße sehen, siehst du vielleicht plötzlich Linien, die ins Bild führen. Wo andere eine Pfütze übersehen, erkennst du einen perfekten Spiegel. Und wo andere eine graue Wand ignorieren, erkennst du eine Bühne für Licht und Schatten.
Genau diese Fähigkeit macht die Fotografie so spannend: Sie verändert unsere Wahrnehmung und lässt uns im Alltäglichen das Besondere, das Motiv, unser Foto entdecken.
Vom Sehen zum Fotografieren
Der entscheidende Unterschied zwischen „sehen“ und „fotografisch sehen“ liegt im Ausschnitt. Unsere Augen nehmen ständig unzählige Eindrücke auf – aber als Fotograf:in triffst du die bewusste Entscheidung, was im Bild erscheint und was nicht.
Beispiel: Du stehst an einer Straßenecke. Vor dir herrscht Chaos – Autos, Menschen, Schaufenster, Werbeschilder. Mit deinem fotografischen Blick isolierst du Details: eine Person mit rotem Mantel im Kontrast zur grauen Umgebung, eine Spiegelung in einer Scheibe, ein Schattenwurf, der sich wie eine Linie durch die Szene zieht.
Hier helfen die Gestaltungsregeln, die ich (zum Teil) im Blogpost Grundlagen der Bildkomposition beschrieben und über die ich auch in zwei früheren Folgen meines Podcasts Abenteuer Fotografie gesprochen habe:
- Mit der Drittelregel bringst du sowohl Ordnung als auch Spannung in die Komposition.
- Mit Linienführung lenkst du den Blick.
- Mit negativem Raum gibst du deinem Motiv eine Bühne und Raum zum Wirken.
- Mit einem Rahmen im Foto konzentrierst du die Aufmerksamkeit.
- Mit Kontrasten schaffst du Interesse und Spannung.
Je öfter du diese Regeln bewusst anwendest, desto stärker verankern sie sich in deinem gestalterischen Repertoire. Und das ist gut!


Übungen, um den fotografischen Blick zu trainieren
Wie bei jedem Training braucht es Wiederholung. Hier sind drei Übungen, die du sofort ausprobieren kannst:
- Das Ein-Motiv-Spiel – Wähle ein unscheinbares Motiv – etwa ein Fahrrad, eine Laterne oder eine Parkbank. Fotografiere es zehnmal, aber jedes Mal auf eine andere Weise. Nutze unterschiedliche Perspektiven, Vordergrundelemente, Rahmen, Abstände. Du wirst merken: Ein und dasselbe Motiv kann unendlich viele „Gesichter“ haben.
- Die 5-Minuten-Challenge – Bleib an einem Ort stehen und fotografiere erst einmal nicht. Beobachte fünf Minuten lang. Erst dann mach dein erstes Bild. Du wirst überrascht sein, wie viele Details dir nach und nach auffallen – Rhythmen, Schatten, Farben, Bewegungsmuster, Stimungen.
- Das Kontrast-Programm – Geh gezielt auf die Suche nach Gegensätzen: groß und klein, hell und dunkel, alt und neu. Kontraste erzeugen Spannung und erzählen Geschichten. Eine moderne Glasfassade neben einem alten Fachwerkhaus? Ist ein perfektes Motiv!
Beispiele aus dem Alltag
Um den fotografischen Blick noch fassbarer und verständlicher zu machen, hier drei typische Situationen:
- Die Pfütze nach dem Regen: Für die meisten ein Ärgernis, für dich ein Spiegel. Drehe die Kamera um 180 Grad, fotografiere die Spiegelung – und schon wirkt es, als würdest du eine andere Welt betreten.
- Die graue Hauswand: Langweilig? Nur auf den ersten Blick. Mit dem richtigen Licht entsteht ein spannendes Spiel von Texturen und Schatten. Platziere eine Person davor – und schon hast du ein minimalistisches Portrait mit starkem Kontrast.
- Die Parkbank im Abendlicht: Allein unscheinbar. Aber mit einem Baum im Vordergrund, einem „Rahmen im Rahmen“ durch Äste und der Sonne im Gegenlicht entsteht ein Bild, das Ruhe und Stimmung transportiert.
Und hier passt auch ein alter Spruch aus der Abteilung „Fotografen-Latein“: Vordergrund macht Bild gesund. – Ein Stein, ein Ast oder ein Zaunpfahl im Vordergrund gibt deinem Foto Dimension, Tiefe – etwas, das Landschaftsmaler seit Jahrhunderten kennen … und das auch (Landschafts-)Fotografen seit je nutzen.
Der fotografische Blick im Alltag
Das Schöne: Du musst nicht ständig die Kamera in der Hand haben, um deinen Blick zu trainieren. Schon beim Spazierengehen, beim Warten auf den Bus oder sogar im Supermarkt kannst du Szenen gedanklich wie durch einen Sucher betrachten.
So gewöhnst du dein Auge daran, Kontraste, Muster und Strukturen zu erkennen, Situationen vorherzusehen und Perspektiven auszubrobieren. Vielleicht wirst du irgendwann nicht mehr „normal“ sehen – sondern du siehst überall potenzielle Fotos. Was erst nach einer Macke klingt, ist tatsächlich eher ein Geschenk: Dein Alltag ist voller spannender Motive und voller kleiner (Bilder-)Geschichten.
Praxisaufgabe
Such dir ein Motiv, das du eigentlich langweilig findest – vielleicht eine Mülltonne, einen Stromkasten oder eine graue Wand. Und dann fotografiere es auf fünf, sechs … zehn verschiedene Arten:
- Einmal mit Vordergrund.
- Einmal durch einen Rahmen.
- Einmal mit bewusst viel negativem Raum.
- Einmal mit Einsatz der Drittelregel.
- Einmal aus einer ganz ungewöhnlichen Perspektive.
Du wirst überrascht sein, wie viel aus einem scheinbar banalen Motiv herauszuholen ist.


Fazit
Der fotografische Blick ist keine geheimnisvolle Sache, keine Zauberei – er ensteht und wird besser durch Übung. Je bewusster du hinsiehst, desto mehr Motive wirst du entdecken. Und je öfter du die verschiedenen Gestaltungsregeln einsetzt, desto intuitiver kannst du sie anwenden und sogar weiterentwickeln. Das Entscheidende ist: Deine Kamera ist „nur“ dein (großartiges, sehr vielseitiges) Werkzeug. Dein Blick aber sieht, findet, erkennt das Motiv … und deine Neugier und deine Kreativität machen das Foto.
Also: Probier die Übungen aus, nimm dir Zeit zum Beobachten, zum Entdecken, zum Experimentieren – und mach die Welt um dich herum so zu einer unerschöpflichen Motiv-Schatzkiste.
Die ausführliche Podcast-Folge zu diesem Thema findest du hier: Der „fotografische Blick“. – Und ja: abonniere meinen Podcast gern, um ja keine Episode zu verpassen 🙂
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